Die Äusseren Hebriden wurden unter den abenteuerlustigen Mitgliedern meiner Familie immer mit Ehrfurcht behandelt: Ein Flecken Land am äusseren Rand der Welt, den man nur mit einer gewissen Portion Entschlossenheit (bzw. einem Calmac-Ticket) erreicht, der alles andere als lebensfreundlich ist und doch – oder gerade deswegen – die hartgesottenen Weltenbummler unter uns beinahe magisch anzieht.
Als wir im September in Ullapool auf die MV Loch Seaforth fahren, geht also ein langgehegter Traum in Erfüllung – eine Autoreise zu den Äusseren Hebriden. Das Wetter ist sonnig, das Aussichtsdeck auf der Autofähre großzügig. 45 Minuten auf See und schon springen die ersten Delfine um den Schiffsbug – wir müssen uns fast ein wenig kneifen.
Als wir zwei Stunden später sicher in den Hafen von Stornoway (der Inselhauptstadt der Äusseren Hebriden) navigieren, passieren wir steuerbords eine unscheinbare weiße Säule. Ein pflichtbewusster Blick in unseren Reiseführer verrät, dass sich hier der Schauplatz eines der tragischsten Kapitel der Western Isles befindet: Hier liegt das Wrack der HMY Iolaire, die am 1. Januar 1919 sank – an Bord knapp 300 Soldaten, die nach den Gräueln des Ersten Weltkrieges endlich wieder auf ihre Hebrideninsel zurückkehren sollten. Die Lichter von Stornoway waren bereits zu sehen, als das Schiff auf die berüchtigten Felsen des „Biests von Holm“ auflief und mehr als 200 Männer ertranken. Das Grauen der Ehefrauen, die ihre Geliebten morgens am Strand angeschwemmt fanden, war die traurige Inspiration für eine ganzen Reihe an Gedichten und Liedern: Eine Generation an jungen Männern war verloren – ein Ereignis, das die isolierte Inselgemeinschaft nachhaltig prägte.
Heute leben etwa 27.000 Bewohner auf den Äusseren Hebriden, die 15 bewohnte Landflecken – die größten sind Lewis and Harris, South und North Uist, Benbecula und Barra – sowie mehr als 100 menschenleere Eilande umfasst. Der Hauptverwaltungssitz ist Stornoway auf der Isle of Lewis, wo auch unsere Unterkunft für die nächsten Tage liegt. Ein guter Ausgangsort, um ein bisschen Zivilisation vor der Haustür zu haben und trotzdem die frische Brise der Einsamkeit fühlen zu können.
Stornoway ist übersichtlich und sieht mit seinen Palmen und verzierten Häuschen an manchen Ecken beinahe südländisch aus. Natürlich kommt auch das Hafenflair nicht zu kurz: Vor allem mein Vater, der seine jungen Jahre zur See verbracht hat, kann sich immer noch nicht gegen die wundersame Anziehungskraft verlassener Docklands, aufgebockter Segler und rostiger Hummerkörbe wehren. Wir schaffen es dann doch, ihn zu einer kleinen Spazierfahrt entlang der Küste Richtung Norden zu überreden.
Während der Wind die Wolken über den Himmel jagt, erstrecken sich zu unserer Rechten die goldenen Sandbahnen von Gary Beach und Tolsta Beach. Fussabdrücke zwischen den Muscheln, Seerosen und Heidekraut: Die Bilderbuchidylle wirkt fast surreal, wie sie dann in ihrer ganzen Pracht vor uns liegt. Im Gegensatz zu den zauberhaft glitzernden Küstenstreifen ähnelt das Landesinnere von Lewis hingegen eher einen kargen Mondlandschaft. Meilenweit erstrecken sich Torffelder in alle Richtungen, hier und da unterbrochen von einer kleinen Siedlung aus graubraunem Waschbeton. Tatsächlich sind hier jedem Grundstück einige Quadratmeter Torf zugeordnet, um die Brennstoffversorgung für den heimischen Ofen sicherzustellen. Was für uns je nach Veranlagung entweder rückständig oder romantisch klingt, ist tatsächlich eine jahrhundertealte Praxis – wie wir im Blackhouse Museum auf der Westseite der Insel erfahren. Das traditionelle Steinhaus ist so gebaut und eingerichtet, wie man es auf einer Insel, auf der praktisch kein Holz verfügbar ist, vor 100 Jahren erwarten würde. Es ist klein, dunkel und warm – das Torffeuer spendet so gut wie kein Licht, dafür aber eine authentische Geruchskulisse. Wir können uns des Gedankens nicht erwehren, dass Lungenkrankheiten wohl einer der Hauptgründe für die Bevölkerungsarmut auf der Insel waren.
Wir sind froh, als wir unsere Nasen wieder in die frische Luft strecken können. Diesmal direkt neben den Standing Stones von Callanish, eine der am meisten frequentierten Sehenswürdigkeiten der Insel. Um die Bedeutung der Steinformation ranken sich nach wie vor verschiedene Mythen und Interpretationen – was der allgemeinen Faszination natürlich unheimlich zuträglich ist. Die transzendente Erfahrung wird zwar von den jugendlichen Besuchern, die munter auf den Steinen turnen, etwas zunichte gemacht, die geschichtliche Ausstellung und der Ausblick auf die Umgebung ist aber allemal sehenswert.
Ganz anders sieht es aus in Uig, dem größten und gleichzeitig am spärlichsten besiedelten Bezirk im Westen von Lewis. Der Strand eignet sich nicht nur herrlich für einsame Spaziergänge, sondern ist auch der Fundort der sogenannten Lewis Chessmen, eines kompletten Sets an mittelalterlichen Schachfiguren aus Walross-Hauern. Die Stücke sind vermutlich norwegischen Ursprungs und Zeugnis der jahrhundertlangen nordischer Herrschaft. An den einsamen Stränden, die Richtung Nordamerika und Kanada blicken, bekommt man eine Ahnung davon, wieso sich die Lord of the Isles, die gälisch-skandinavischer Fürsten der schottischen Westküste, jahrhundertelang erfolgreich weigerten, vor dem schottischen König das Knie zu beugen.
Ein ähnliches Gefühl der Abgeschiedenheit überkommt uns auf dem Weg nach Harris. Als wir uns langsam über den Gebirgspass winden, der Lewis und Harris voneinander trennt, wird deutlich, wieso diese Inseln oft als separate Einheiten gehandelt werden. Die höchsten Berge der sonst eher flachen Western Isles ragen hier knappe 800 Meter in den Himmel, weswegen früher der Seeweg die bevorzugte Reiseroute war – ganz so, als ob man auf eine Nachbarsinsel übersetzen würde.
Harris ist felsiger als sein nördlicher Nachbar und erinnert uns an eine norwegische Schärenlandschaft. Als wir über eine Hügelkuppe kommen, stockt uns – trotz aller vorbereitender Lektüre – der Atem. Die kilometerlange Sandbucht von Luskentyre liegt trotz Wind und Wolken türkisblau vor uns. Auch wenn die Temperaturen keinerlei Interesse an üblichen Strandaktivitäten fördern, geniessen wir unsere sturmumtosten Minuten.
Natürlich kommen wir auch am Harris Tweed nicht vorbei – der Stoff, aus dem Insellegenden sind. Wir machen zwar einen Bogen um die drei grossen Mühlen, haben aber ein Auge auf eine Liste von unabhängigen Webern in unserem Reiseführer geworfen. Auch wenn sich diese seit dem Erscheinungsdatum vor gut 20 Jahren altersbedingt etwas ausgedünnt hat, werden wir schließlich doch fündig und dürfen in Annies Garage deren seit Generationen aktiven Webstuhl bewundern. Obwohl wir ganz offensichtlich mehr von Neugier als von Kaufkraft getrieben sind, werden wir herzlich begrüßt und mit Inselklatsch aus erster Hand versorgt.
Eigentlich müssten wir nun in Leverburgh, am Südzipfel von Harris, auf eine Fähre springen, um die Inseln weiter nach Süden durchzufahren. Wir begnügen uns vorerst aber mit den Hauptinseln Lewis und Harris und dem schönen Gefühl, diesen Flecken Land der Äusseren Hebriden ausgiebig erkundet zu haben.
Unser Abreisetag fällt auf einen Sonntag, den Tag, an dem auf den Äusseren Hebriden – zumindest im protestantisch geprägte Norden – plötzlich das Leben stillsteht. Vor allem die Mitglieder der sogenannten Free Church of Scotland zelebrieren den Sabatt mit mehrstündlichen Kirchengängen und strikten Kleidungsregeln. Erst seit 2009 fahren an diesem Tag überhaupt Fähren von und zu den Inseln. Glück für uns – obwohl ein Tag mehr eigentlich auch nicht schlimm gewesen wäre…
Der Beitrag stammt von unserer Kollegin Hannah Grimmel. Hier finden Sie weitere Informationen zu einer Individualreise zu den Äusseren Hebriden.